Unter einem bestimmten Aspekt lässt sich die These aufstellen, dass das ‘Massive Multiplayer Online Roleplaying Game’-Setting als temporalisiertes “transitional object” – also als Upgrade der Winnicott-schen íœbergangsobjekt-Konzeption – fungiert, womit sich die jugendlichen Gamer für die neue Kulturform der “žnext society” (Peter F. Drucker 2001) fit machen.
F.E. Rakuschan: Wenn man jetzt bedenkt, in welchem Ausmaß sich die Kulturform und Strukturform der Gesellschaft im 19. Jahrhundert verändert hat, indem vom Aufspüren von Wesensunterschieden auf Semantik umgestellt wurde, dann ist es wohl nicht überraschend, heute schon annehmen zu dürfen, dass sich in der sogenannten “next society” – wie das Peter F. Drucker bezeichnet hat – die Kulturform und die Strukturform mit Sicherheit wieder gravierend unterscheiden werden.
Peter F. Drucker hat die next society einmal grundlegend dahin definiert, dass es sich um eine Gesellschaft handelt, die auf die Etablierung des Computers, also auf die Etablierung der Informatisierung und den damit verbundenen Umwelten, reagieren wird. Das hat er am Begriff der next society festgemacht.
Wenn man jetzt überlegt, dass Dirk Baecker in den Diskursen in Verweis auf Peter F. Drucker und als Anstoß auf eine Anmerkung einer Stelle bei Niklas Luhmann – Die Gesellschaft der Gesellschaft – wo er davon schreibt, dass offensichtlich die Gesellschaften die Einführung der jeweils neuen Medien (und zwar natürlich auch rückblickend in Bezug auf Sprache und Schrift und so weiter) nur deshalb überlebt haben, indem sie eine adäquate, handhabbare Kultur- und Strukturform gefunden haben, wird es auf alle Fälle spannend, was in der next society passiert. Dirk Baecker glaubt, dass das Formenkalkül, die Formenidee von George Spencer Brown möglicherweise der prominenteste Kandidat für die nächste Kulturform ist. Und es wäre eine Sensation, würde das wirklich die nächste Kulturform werden – die wahrscheinlich ihr alle noch erleben werdet, aber ich wohl nicht. Das wäre eigentlich der Durchbruch der künstlerischen Logiken, denn rückblickend wird auch der Kunst in allen nur erdenklichen Artikulationsformen attestiert, dass sie sich genau an dieser Formidee von George Spencer Brown orientiert hat. Da ist natürlich keine Rede davon, dass sie sich bewusst daran orientiert hat, aber die Umgangsweise – dieses Switchen mit den unterschiedlichen Wirklichkeiten, das Arbeiten mit Imagination, mit Phantasie, das sogenannte Spielerische, das praktisch durch Playfulness, die Veranstaltung, geprägt wurde – wäre schon eine sensationelle Sache. Man kann also sagen, der letztendliche Durchbruch, die bis jetzt durchaus erfolgreiche Geschichte der Kunst.
Esel: Kannst du mir zum Prinzip des Formenkalküls noch Näheres erzählen, kannst du mir den Begriff erklären?
F. E. Rakuschan: Ok. Knapp gefasst: Wir gehen einmal vom Terminus “Beobachtung” aus. Wir alle sind Beobachter, die beobachtet werden und durch den Zusammenhang von beobachten und Beobachtern formieren sich soziale Zusammenhänge. Luhmann bringt es auf den Punkt: Die Gesellschaft muss als Kommunikationssystem verstanden werden. Durchaus in Anspruchnahme des Autopoiesis-Begriffes von Maturana beziehungsweise von Maturana und Varela.
Wenn wir etwas beobachten, dann beginnen wir – wie es für unsere Rationalität ja üblich ist – mit einer Unterscheidung. Zuerst kommt die Aufforderung, etwas zu bezeichnen und zu unterscheiden.
Der Trick von George Spencer Brown ist nun – ich mache das ganz kursorisch -, dass er diese ersten Schritte auf einen Operator zusammengezogen hat. Man könnte sagen “Bezeichnendes unterscheiden”. Das heißt, er führt jetzt etwas ein, das für uns heute eine Normalität geworden ist: Die Prozess-Idee, die Verzeitlichung von etwas. Das würde sich von vorangegangenen und älteren Vorstellungen von Denken, etwa in Form von Dualismen, unterscheiden. Der Zeitfaktor hat einen besonderen Stellenwert.
Jetzt beginnt diese Operation mit dem bezeichnenden Unterscheiden. Selbstverständlich wird erst einmal nur eine Seite bezeichnet, wenn man auf diese eine Seite fixiert bleibt, würde der Fortgang der Denkoperationen mehr oder weniger determiniert und auch festgelegt sein – und dann kommt zum Beispiel das heraus, was wir unter dem Begriff der traditionellen Kulturkritik kennen. Wo also nicht beachtet wird, dass es sehr wohl eine andere Seite gibt, die man entweder markiert oder nicht markiert – das kann man offen lassen.
Die Empfehlung der Formidee von George Spencer Brown schaut so aus, dass man die eine Seite markiert – “marked” – und die andere Seite unmarkiert hält, also “unmarked”. Dafür gibt es gute Gründe. Ein gutes Beispiel: öffentliche Meinung, die selbstverständlich auch eine Medienform der Relation ist. Die Form ist klar – Artikulation – aber das Medium sind gekoppelte Elemente, die ja auf den ersten Blick gar nicht genau definiert und bezeichnet werden könnten. Dann kommt die Kunst, die die strategischen Vorgangsweisen im Umgang mit künstlerischen Ideen übernimmt, selbstverständlich nicht bewusst und in Bezugnahme auf Spencer Brown, aber durchaus über diese Formidee verständlich.
In den künstlerischen Logiken ist es schlichtweg normal, zwischen den Ebenen, zwischen diesen zwei Unterscheidungen zu switchen. Spencer Brown redet vom Crossing, also vom Eintritt in das Unterschiedene – das klingt natürlich in unserem normalen Alltagsgebrauch absurd oder sonstwie schräg. Aber wenn man bedenkt, welche Tricks immer wieder in asynchronen Kommunikationsverläufen angewendet werden, um dort irgendwas auf den Punkt zu bringen – obwohl es im Grunde genommen bei Diskussionen eigentlich gar keinen Punkt gibt. Bloß die jeweils an der Diskussion Beteiligten einigen sich darauf – “jetzt geben wir eine Ruhe” – aber in der Regel ließe sich diese Last des unendlichen Weiterkommunizierens und Abwägens und das Spiel mit den Unterscheidungen natürlich fortsetzen. Das passiert natürlich auch im Alltagsumgang immer wieder.
Interessant ist natürlich auch, dass aus der Auflösung dessen, was wir einmal als ‘überschaubar’ bezeichnet haben, im Diskurs und in den Diskussionen der Postmoderne die sogenannte “Unübersichtlichkeit” folgt – man kann sich nicht mehr “drauf verlassen”, beispielsweise in der Politik: Wie schaut meine Klientel jetzt wirklich aus? Wie schauen meine Wählerinnen und Wähler aus?
All das, all diese Ausdifferenzierung und Segmentierung der verschiedensten sozialen Zusammenhänge und Bereiche, genau das schreitet weiter fort und verweist natürlich auch darauf, dass – wie uns diese Formenidee deutlich macht – dass sich das, an und für sich wirklich, möglichweise, mehr und mehr, als Kulturform verfestigen könnte.
Esel: Ist das Verhältnis unentschieden?
F. E. Rakuschan: Es ist eine Korrelation, ist komplementär. Beim Unterscheiden haben wir erst einmal immer den binären Schematismus – da oder da. Wir wissen aber ganz genau, dass es zig Aspekte gibt. In der Regel ist man aber mit einem binären Schematismus konfrontiert. Das ist keine unzulässige Reduktion, das ist nun einmal so: beim Unterscheiden geht man rekursiv vor. Man unterscheidet zwischen dem und dem anderen. Wenn man etwas abgeklärt hat, geht man zum nächsten Differenzpunkt und unterscheidet da wieder.
Esel: Die künstlerische Form beinhaltet diese Ambivalenz und diese Heterogenität bereits?
F. E. Rakuschan: Ja, total. Eigentlich macht genau das künstlerische Logik aus. Das wird berechtigterweise aus der Beobachterposition von Logiken in anderen funktionalen Zusammenhängen der Gesellschaft als Unsinn oder als Wirre bezeichnet – das ist aber vollkommen klar, weil selbstverständlich jedes Funktionssystem seine eigenen Wertpräferenzen und Wertkriterien hat, sonst könnte Gesellschaft ja nicht funktionieren. Was man aber nicht vergessen darf, ist dass es innerhalb des Kunstzusammenhangs längst absurd geworden ist, dass irgendwer irgendwem erzählen will, dass er besser wüsste, was gesamtgesellschaftlich wichtiger ist, als zum Beispiel andere Positionen zu vertreten. Jedes Funktionssystem kann sich spezialisieren und in seiner Sichtweise seine Statements zu Situationen abgeben. Aber gesamtgesellschaftliche Empfehlungen oder Sinnorientierungen, die gesamtgesellschaftlich für alle gelten sollten, sind längst völlig absurd geworden.
So gesehen kann man das als Erfolg der künstlerischen Logiken bezeichnen, wo es selbstverständlich demokratische Formen gibt und Ideale des Nebeneinander von teilweise sehr befremdlichen Nachbarschaftsverhältnissen völlig normal sind und akzeptiert werden. Das ist also möglicherweise eine Anforderung für die sogenannte next society.
Esel: Amen.
F.E.Rakuschan, media epistemologist, lecturer at the University of Applied Arts Vienna/ Department Digital Arts. Since 1989 collaborations with a variety of artists, since february 2006 member of L.S. – Ludic Society, lives as independent writer in Vienna and Berlin.